Selbstständige Arbeit ist nicht gerade eine revolutionäre Neuerung. Schon seit ewigen Zeiten gibt es ganze Berufszweige, in denen zum großen Teil – wenn nicht überwiegend – Menschen arbeiten, ohne dass sie in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, und meist auch ohne dass sie selbst weitere Mitarbeiter beschäftigen. Architekten, Grafiker, Musiker, freiberufliche Journalisten sind sehr oft solche Solo-Selbstständigen. Gerade in der IT haben die „Freelancer“ mit ihren Spezialkenntnissen etwa in der Softwareentwicklung oder bei der SAP-Konfiguration seit jeher einen festen Platz. Sie alle schätzen die hohe Flexibilität dieser Arbeitsweise: Sie können sich ihre Zeit mehr oder weniger selbst einteilen, meist auch den Arbeitsort, und – was oft das wichtigste ist – sie haben keinen Chef, sondern lediglich Auftraggeber, möglicherweise mehrere gleichzeitig. Diese schätzen die Flexibilität des Modells ebenfalls: sie können kurzfristig Aufträge vergeben, ohne dass sie erst in neue Mitarbeiter investieren müssen. Für derartige Solo-Selbstständigen war diese Form der Beschäftigung in der Regel immer auch wirtschaftlich interessant; viele konnten auf diese Weise deutlich mehr verdienen als in einer abhängigen Beschäftigung, so dass auch die soziale Absicherung kein Thema war.
Dieses Modell unabhängiger, selbstständiger Beschäftigung existiert natürlich weiter. Nun aber, im digitalen Zeitalter, erfährt es eine bemerkenswerte Erweiterung. Kamen (und kommen) die klassischen Solo-Selbstständigen hauptsächlich durch persönliche Beziehungen und Empfehlungen zu ihren Aufträgen, so übernimmt nun das Web diese Funktion: Spezielle Plattformen bringen Auftraggeber und Auftragnehmer zusammen, wobei die Plattformbetreiber die Infrastruktur stellen, die Regeln bestimmen und dafür eine Provision abschöpfen.
Diese „Plattform-Economy“ hat sehr viele Gesichter; das zeigt sich auch daran, dass sie eine Vielfalt von Begrifflichkeiten entwickelt hat und mal Gig-Economy, Crowd-Working, Click-Working oder Microtasking heißt – je nachdem, wo der Schwerpunkt liegt. Gemeinsam ist allen Formen, dass es nicht um eine ständige Beschäftigung geht, sondern um einzelne Aufträge und Projekte, die von Menschen übernommen werden, die nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen – daher auch „Gig“, in Analogie zu Auftritten von Musikern.
Während sich Plattformen wie Twago oder Upwork noch schwerpunktmäßig im Umfeld der genannten klassischen Solo-Selbstständigen und Freelancer bewegen, haben andere ganz neue Märkte erschlossen beziehungsweise neu geschaffen. Das bekannteste Beispiel ist hier Uber, der Fahrdienst, der selbstständige Fahrer und Fahrgäste zusammenbringt, und der dabei – zumindest offiziell – nur als Vermittler, nicht aber als Auftrag- oder gar Arbeitgeber fungiert. In einigen Formen der Gig-Economy wird die Dienstleistung vor Ort erbracht, wie etwa bei Helpling für Putzhilfen oder bei MyHammer für handwerkliche Tätigkeiten. Hier übernimmt die Plattform eine Funktion, die früher Kleinanzeigen oder das Schwarze Brett im Supermarkt geboten hatten. Demgegenüber hat das Web natürlich eine größere Reichweite, und man findet eher einen geeigneten Dienstleister, wobei umgekehrt aber auch die Konkurrenz größer wird.
Vom Gig zum Klick
Noch einen Schritt weiter in die digitale Welt gehen Plattformen, die Tätigkeiten vermitteln, die es so nur im Web gibt. Clickworker, Mechanical Turk oder Textbroker verteilen fragmentierte Kleinstaufträge – „Microtasks“ –, die man zuhause am eigenen PC ausführt: das kann beispielsweise das Abtippen von Kassenzetteln sein, das Erkennen von Bildelementen oder das Schreiben von Kurztexten für Produktkataloge. Es geht hier also nicht um anspruchsvolle, kreative Tätigkeiten, sondern ganz im Gegenteil um Aufgaben, für die Computer (noch) zu dumm oder zu teuer sind. Jörg Schieb hat schon recht, wenn er meint, dass Mechanical Turk eine Simulation Künstlicher Intelligenz sei. Erstaunlich, was die Digitalisierung so alles hervorbringt.
Dass man mit derartigen Kleinstaufträgen auch nur Kleinstbeträge verdient, liegt auf der Hand – für jeden abgetippten Kassenzettel gibt es nur drei Cent. Nach hundert Kassenzetteln flimmern die Augen, aber man hat erst drei Euro in der Kasse. Kein Wunder, dass besonders diese Form der Gig-Economy in letzter Zeit ins Gerede gekommen ist, denn wer hier tatsächlich auf einen nennenswerten Verdienst kommen will, muss lange arbeiten. Dass man damit „nicht reich wird“ ist schon ein Euphemismus. In der Regel nutzen diese „Digitalen Tagelöhner“[2] die Click-Arbeit allenfalls als Zuverdienst, wenn sie sich nicht ohnehin nach ein paar Versuchen frustriert abwenden[3]. Vom Idealbild des kreativen Selbständigen, der flexibel und selbstbewusst über seine Aufträge und Auftraggeber entscheidet, ist das jedenfalls sehr weit entfernt. Ob wir so die Ressourcen für die Digitale Transformation bereitstellen können, halte ich für fraglich.
Für mich besteht das Interessante an der Gig-Economy aber vielmehr darin, wie sich die Arbeitswelt in relativ kurzer Zeit in sehr unterschiedliche Modelle aufgefächert hat. Die Arbeitswelt sucht geradezu nach Organisationsformen jenseits der traditionellen Strukturen von festen Arbeitsplätzen und Beschäftigungsverhältnissen. Und das reicht sehr viel weiter als nur bis zum Homeoffice. So denken einige Konzerne schon seit Jahren darüber nach, nur noch mit einer kleinen Kernbelegschaft von Spezialisten zu arbeiten; ansonsten sollen sich freie Mitarbeiter über eine digitale Plattform aus der ganzen Welt für die Dauer der jeweiligen Projekte einklinken.[4] Dass solche Modelle vor allem in Krisenzeiten Konjunktur haben, sei nur am Rande vermerkt.
Nicht jedes Modell, das im Rahmen der Gig-Economy entsteht, halte ich für wirklich nachhaltig. Viele zeichnen sich dadurch aus, dass eine soziale Absicherung nicht vorgesehen ist; angesichts der in vielen Fällen ausgerufenen Miniverdienste ist eine private Vorsorge aber auch utopisch. Langfristig führt das dazu, dass die Gesellschaft einspringen muss, wenn es irgendwann zu den „Wechselfällen des Lebens“ kommt – also spätestens, wenn der betreffende Clickworker oder Pizza-Kurier alt ist; so gesehen subventionieren wir alle die Plattform Economy. Ich bin mir nicht sicher, ob das auf Dauer funktionieren kann.
Abschied vom Standardmodell der Beschäftigung?
Das zeigt aber auch, wie wenig die Rechts- und Sozialordnung auf solche Veränderungen der Arbeitswelt eingestellt ist. Schon die Frage, ob es sich wirklich um Selbständige oder um Arbeitnehmer handelt, in welche juristischen Abteilungen sie also einsortiert werden können, erscheint recht akademisch. In Großbritannien erklärte ein Gericht die Uber-Fahrer kurzerhand zu Arbeitnehmern von Uber, aber das erscheint eher als Notnagel, weil man das Phänomen anders nicht fassen konnte. Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist die Gig-Economy trotz Zuwächsen zugegebenermaßen noch immer marginal. Selbst in den USA, dem Mutterland der Digitalisierung, liefert sie nur 0,5 Prozent der Jobs.[5]
Doch auf die Quantitäten kommt es nicht an. Wir sehen den Anfang eines epochalen Umbruchs: Nach rund 150 Jahren ist das Standardmodell der Beschäftigung tendenziell im Schwinden begriffen – Auslaufmodell wäre vielleicht zu viel gesagt, denn auch dieses Modell wird genauso weiter existieren wie der klassische Solo-Selbstständige. Auch außerhalb der Gig-Economy nehmen ja „atypische Erwerbsformen“ wie Zeitarbeit und Leiharbeit zu, und die Gig-Economy ist nur ein Teil der Entwicklung. Dabei werden vermehrt neue Modelle ausprobiert, und wenn sie sich nicht bewähren, wird man sie auch wieder verwerfen müssen. Dazu gehört vermutlich auch die Click-Variante, weil am Ende ja doch die KI die Oberhand behalten wird. Aber auch das ist richtig: Gig muss nicht Click sein, denn auch der hochbezahlte SAP-Freelancer kann zur Gig-Economy gehören.
Lösungen, die Flexibilität und Kreativität, die in der digitalen Welt unverzichtbar sind, mit einer sozialen Absicherung verbinden und der Gesellschaft den unverzichtbaren Zusammenhalt verleihen, sind allerdings noch nicht in Sicht. Und die eine Lösung wird es sowieso nicht geben. Wie auch immer, es gibt jedenfalls noch eine Menge zu tun, auch in Sachen Arbeit.
[2] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/2.220/digitale-tageloehner-wie-das-netz-die-arbeit-veraendert-1.2375232
[3] Einen interessanten Selbstversuch beschreibt die SZ: „Unsere Autorin hat wochenlang bei der digitalen Plattform ‚Amazon Mechanical Turk‘ geschuftet. Die Jobs sind miserabel bezahlt, der Druck ist hoch, jeder ist auf sich allein gestellt: Sieht so die Zukunft der Arbeit aus?“ http://www.sueddeutsche.de/leben/arbeit-bei-onlineportal-die-mensch-maschine-1.3911727?reduced=true
[4] Quelle: Spiegel 6/2012 http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/revolutionaeres-arbeitsmodell-ibm-schafft-den-miet-jobber-a-813388.html
[5] „Nach aktuellen Untersuchungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales arbeitet circa ein Prozent der Erwerbstätigen, 446 000 Personen, als Clickworker in Deutschland. Neben dem Marktführer clickworker.com gibt es weitere Plattformen wie Crowd Guru, Testbirds oder Streetspotr.“ https://www.saarbruecker-zeitung.de/sz-spezial/internet/die-tageloehner-des-world-wide-web_aid-23379017 (Wobei nicht alle, die auf so einer Plattform angemeldet sind, auch tatsächlich aktiv sind.)