So nach und nach hat in allen Bundesländern die Schule begonnen. Es ist also wieder Saison für Nachrichten aus der Bildungspolitik. Und wie jedes Jahr – Überraschung! – fehlen überall Lehrer. Dabei sollte man doch meinen, gerade beim Lehrerbedarf gäbe es eine gewisse, naturbedingte Vorlaufzeit, gemäß der schlichten Formel Anzahl Geburten + 6 = Anzahl neue Schüler im Jahr X. Aber offenbar sind die Defizite in den MINT-Fächern noch größer als befürchtet.
Noch eine erstaunliche Meldung: Lehrermangel und „mehr als 2000 Lehrer stehen, nach Fächerschwerpunkten sortiert, auf Wartelisten“ (1). Und es kommt noch besser: 2017 mussten sich allein in Bayern 861 Lehrer zu Beginn der Sommerferien arbeitslos melden; wenn sie Glück haben, wurden sie nach den Ferien wieder eingestellt.
Beides wirft ein grelles Schlaglicht auf den Stellenwert von Bildung in Deutschland. Ich möchte mir wirklich nicht vorstellen, was für einen Skandal es gäbe, wenn IT-Unternehmen wie IBM, SAP oder auch Dell jedes Jahr zu Beginn der Urlaubszeit dutzendweise junge Ingenieure entlassen würden, um sie hinterher neu einzustellen. Trotz unbestreitbarer Kostenvorteile ist das eine geradezu absurde Vorstellung. Aber klar, es sind ja „bloß Lehrer“, und es geht ja bloß um Bildung. So sieht er also in der Praxis aus, der vielbeschworene hohe Stellenwert der Bildung im Land der Ingenieure und Denker. War da was? Ohne Bildung keine Talente, ohne Talente keine Zukunft?
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass unser Bildungswesen insgesamt krankt. Es ist rund 150 Jahre alt und meistens fühlt es sich genau so an. Da sperrt man Kinder und junge Erwachsene Tag für Tag über viele Stunden in 60 Quadratmeter große Schuhkartons – das ist natürlich streng geregelt: zwei Quadratmeter pro Schüler ist die Norm – und nimmt „Stoff“ durch.
Ja, neuerdings sollen auch Kreativität, strategisches Denken und Flexibilität gefördert werden. Aber wie kann sich so etwas behaupten, wenn es im Wesentlichen eben um den Stoff geht: möglichst viel in möglichst kurzer Zeit. Stoffballast abwerfen kommt nicht in Frage; ja, verschiedene Stoffe haben regelrechte Lobby-Gruppen, die sich mit Händen und Füßen gegen Kürzungen „ihres“ Stoffs wehren – die MINT-Fraktion gegen die Musischen, die Sprachen gegen die Wirtschaftsfraktion.
Die Schüler versuchen sich den Stoff soweit zu merken, dass sie ihn in der nächsten Prüfung wiedergeben können. Sie lernen für ihre Prüfungen und für sonst nichts, und wer sich für ein Thema interessiert, riskiert, dass er den übrigen Stoff nicht bewältigt. Also lässt er es besser gleich. Vielmehr wollen sich alle mit möglichst wenig Aufwand – ökonomisch denken können auch Schüler – durchwursteln: Noten, Zeugnisse, Übertritt, solche Themen regieren die Schule, nicht Goethe, nicht Beethoven, nicht Pythagoras und natürlich auch nicht Programmieren oder diese neumodische Medienkompetenz. „Content“ ist Mittel zum Zweck, bei den Noten gut abzuschneiden.
Muss man sich wundern, dass in vielen Schularten die wichtigste Tätigkeit der Lehrer mittlerweile darin besteht, ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Disziplin aufrechtzuerhalten? Muss man sich wundern, dass Unternehmen klagen, den Absolventen dieses Schulwesens würde es an grundlegenden Fertigkeiten mangeln? Und das nach einem Jahrzehnt gesetzlich verbindlichen Schulbesuchs!
Natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass sich auch an den Schulen einiges gebessert hat – kein Grund, übermäßig stolz zu sein, das wäre ja noch schöner, wenn sich hier gar nichts verändern würde –, aber insgesamt verharrt das Bildungswesen in überkommenen Strukturen. Auf die digitale Welt bereitet es nur unzureichend vor. Das soll jedoch kein Plädoyer für mehr Computerkurse und Informatikstunden, oder für Tablets im Unterricht sein. Das wäre viel zu kurz gegriffen. Digitalisierung ist ja auch längst kein IT-Thema mehr, sondern betrifft das gesamte Unternehmen. Das gilt analog für Schule und Bildung. Digitalisierung ist auch nicht auf die MINT-Fächer beschränkt, es ist, wenn man so möchte, ein ganzheitliches Konzept.
Wir haben mittlerweile verstanden, dass sich die Arbeitswelt radikal verändert, dass – womöglich lebenslange – Arbeitsverhältnisse zur Ausnahme werden, dass die Schüler von heute morgen Projektarbeiten, Teilzeitarbeit oder selbständige Tätigkeiten ausüben werden; dass es Phasen geben wird, in denen man sich zum Beispiel weiterbildet oder sich um die Familie kümmert. Bereiten unsere Schulen auf solche Perspektiven vor? Tatsächlich bereiten die Schulen auf eine Welt vor, die es nicht mehr gibt – jedenfalls dann nicht mehr, wenn die heutigen Schüler in die Arbeitswelt treten. Ich bin mir übrigens sicher, dass die sich darüber weniger Illusionen machen, als die für ihre Bildung Verantwortlichen.
Digitalisierung, das haben wir in den letzten Jahren gelernt, heißt immer auch Disruption. Das brauchen wir auch in der Bildung. Wir müssen weg von den eingefahrenen Gleisen. Andersfalls kann es uns passieren, dass wir den „War for Talents“ ohne die richtigen „Talente“ führen.
(1) https://www.sueddeutsche.de/muenchen/2.220/lehrer-arbeitslosigkeit-sommerferien-1.4091727